CariLat - Karibik - Lateinamerika - MagazinLesetipp/Literatur

Umschlagphotoausschnitt "Tor zum Amazonas" © Frank Semper

Von Frank Semper
"Tor zum Amazonas" folgt dem Rio Caquetá, einem Amazonaszufluss im "Niemandsland" zwischen der brasilianischen Grenze und dem Einflussbereich der kolumbianischen Guerrilla.
Die Region steckt voller Rätsel und ihre Geographie wird noch immer von den Mythen der Indianer bestimmt, die sich (bislang) als stärker erwiesen haben als die Einflüsse der modernen Massengesellschaft. Im kolumbianischen Amazonasgebiet existiert noch die Freiheit des ursprünglichen Reisens, in der jeder neue Tag unverbraucht ist und jede menschliche Begegnung Neugierde weckt.
Auf seiner Reise zu den Bora und Mirana Indianern trifft der Ich-Erzähler einen Ausländer auf Drogensuche, Soldaten, die die Guerrilla fürchten und eine Anakonda im Hungerstreik. Hinter den Begegnungen der Gegenwart öffnet sich der Blick auf die Wirren der kolumbianischen Geschichte und die Reise des Carl Friedrich Philipp von Martius, einem der bedeutenden Amazonasreisenden des 19. Jahrhunderts.

Umschlagphotoausschnitt "Tor zum Amazonas" © Frank Semper

Leseprobe/Erstes Kapitel
 Es war heiß und die Luftfeuchtigkeit war hoch, als ich am Nachmittag Leticia erreichte. Hinter der Rezeption des Hotel Manigua stapelten sich Pappkartons mit Elektrogeräten. In dem Aquarium gegenüber schwebten fingergroße Zierfische und eine kleine Terekayschildkröte. Das stämmige Mädchen an der Rezeption fragte mich nach meinem Ausweis, den ich müde aus der Hosentasche zog. Das Zimmer hatte eine Tür zum Innenhof, in dessen Mitte ein Vogelkäfig stand. Auf einem Ast hüpften zwei schwarzgelb gemusterte Arrendajos und zwitscherten Melodien. Ich stellte den Deckenventilator an und fiel erschöpft ins Bett.

 Nur wenige Schritte von dem kleinen Hotel entfernt hatte ein Café Tische und Stühle auf den Fußweg gestellt. Nach einem nächtlichen Tropengewitter saß ich am nächsten Morgen bei wolkenlosem Himmel im Schatten einer Markise, umgeben von unrasierten alten Männern, die Domino spielten. Sie trugen weiße Anzüge und Panamahüte. In den Straßen herrschte bereits Geschäftigkeit, doch weder Lärm noch Hektik. Einige durchgerostete VW do Brasil rollten über die hintereinandergegossenen Betonplatten. Hübsche Mädchen in Kostümen saßen auf schnurrenden roten Hondamofas.

 "Como estás?" sprach mich ein schlacksiger Mann an, dessen Haare grau wurden und den ich auf Anfang fünfzig schätzte. Er setzte sich zu mir an den Tisch und fragte, wo ich herkäme. "Aus Deutschland, Hamburg", antwortete ich. "Hamburg kenne ich gut aus meiner Zeit als Seemann. St. Pauli, die Reeperbahn, die U-Bahn. Ich bin viel mit der U-Bahn gefahren." Und dann begann er vor meinen staunenden Augen die Stationen der Linie U 3 aufzusagen."Landungsbrücken, St. Pauli, Feldstraße, Sternschanze, Schlump." Das waren einst auch die Stationen meiner nächtlichen Streifzüge gewesen, aber ihr Klang war nun ein ganz anderer als der aus den Lautsprecheransagen, die in meiner Erinnerung widerhallten.

 "Möchtest du einen Tinto", lud ich meinen neuen Bekannten, der Pablo hieß, zu einem kolumbianischen Kaffee ein. "Wie hat es dich nach Leticia, in den Dschungel, verschlagen?"

 "Ich komme aus Ciénaga an der Karibikküste. Nach meiner Zeit als Seemann schlug ich mich als fahrender Händler durch. Ich habe alles mögliche verkauft, vom Schreibheft bis zum Potenzmittel, aber es blieben nur einige Pesos übrig. Dann war ich Vaquero am Unterlauf des Río Magdalena. Wenn die Regenzeit kam, trieben wir die Zeburinder auf höhergelegenes Land. Das war Knochenarbeit, und ich war schon zu alt, um mit den jungen Reitern mithalten zu können. Der Patron zahlte mich aus, ich sollte mir besser was anderes suchen. Ich nahm Kontakt zu meiner Familie auf, meine Schwester lebte in Leticia. Das schien mir ein guter Ort für einen Neuanfang zu sein. Drei Wochen war ich unterwegs, nachdem ich in Puerto Leguízamo am Oberlauf des Río Putumayo ein Benzinboot erwischt hatte, das nach Leticia fuhr. Aber ich will dich nicht mit meiner Familiengeschichte langweilen. Komm mit in den Parque Zoologico. Die riesigen Mohrenkaimane werden heute gefüttert. Außerdem gibt es eine Anakonda, Tapire, Manatis, Aras, Tukane, die ganze Tierwelt des Amazonas. Jeden Mittwoch kommt das Kreuzfahrtschiff aus dem peruanischen Iquitos mit einer Gruppe Gringos. Ich helfe dann den Parkwärtern die Schlange aus dem Gehege zu holen. Das ist sehr interessant, ein echtes Erlebnis."

 Ich schloß mich Pablo an. Wir bogen um die nächste Ecke und liefen die zehn Block Richtung Flughafen zum Zoo. Wir kamen an der Kaserne der kolumbianischen Armee vorbei. Eine Einheit Soldaten robbte über die kurzgeschnittene Wiese. Dann erreichten wir den Parque Zoológico. Wir waren die einzigen Besucher und liefen auf den Käfig mit der Anakonda zu. Kurze Zeit später betrat eine Gruppe von zwanzig Frauen und Männern mittleren Alters den Eingang. Sie unterhielten sich lautstark. Es waren korpulente Amerikaner in kurzen Shorts, behängt mit Fotoapparaten mit Teleobjektiven und Videokameras. Sie folgten einem kleinen drahtigen und laut redenden Kolumbianer, der eine spiegelgetönte Ray-Ban trug. Vor dem Gehege mit der Anakonda blieben sie stehen. Die Windungen der zehn Meter langen Schlange waren dick wie ein muskulöser Männeroberschenkel und verteilten sich in dem Gehege. Der vordere Teil der Anakonda lag leblos auf der Betonplatte, der hintere im Wasserbecken. Der Kopf war so groß wie der eines Menschen, doch die Augen waren nicht viel größer als Stecknadelköpfe, schwarz und leblos wie Teertropfen. Die Haut schimmerte gräulich und war entlang einer imaginären Rückenlinie mit ovalen schwarzen Flecken bedeckt. Die beiden Wärter riefen Pablo zu sich, und gemeinsam betraten sie den Schlangenkäfig. Mit großer Kraftanstrengung wuchteten sie das regungslose Tier in die Höhe und trugen es heraus. Für einen Augenblick endete das Plappern der Amerikanergruppe. Die Wärter legten die Schlange ab und forderten nun die Touristen auf, Fotos zu machen. Eine Amerikanerin warf sich auf die Schlange und drückte den Kopf wie bei einer Stoffpuppe.Sie hielt den Schlangenkopf in die Höhe und suchte das Objektiv einer Videokamera. "Oh great, how old is she? What's her name?" riefen mehrere Stimmen durcheinander. Der Schlange war die ganze Aufregung gleichgültig. Sie blinzelte nicht einmal. Ihr gewaltiger Leib wurde wie ein Feuerwehrschlauch auf mehrere Amerikanerschultern verteilt. Die Anakonda zeigte keine Regung. Plötzlich brach eine Amerikanerin in Tränen aus und lief weg. Die Frau hatte eine Schlangenphobie. "Un ataque del amor", interpretierte Pablo verständnisvoll. Die Gruppe setzte die Schlange ab, und die Wärter und Pablo trugen sie in den Käfig zurück. "Füttert ihr die Schlange mit Valium, damit die Touristen aufregende Fotos nach Hause bringen können?" fragte ich Pablo enttäuscht, hatte ich mir die Begegnung mit der gewaltigen Anakonda doch etwas anders vorgestellt. "Seit einiger Zeit ist sie lebensmüde und die Nahrung muß ihr mit dem Besenstiel hineingestopft werden. Diese Anakonda ist sehr alt, wie alt weiß keiner so genau, aber über sechzig Jahre werden es schon sein. Das erkennt man an den Flecken auf der Haut, so ähnlich wie man das Alter von Bäumen bestimmt. Je größer die Kreise sind, desto älter ist die Schlange", klärte mich Pablo auf.

 Mit der Anakonda verbanden sich viele Mythen des Amazonas. Die Windungen ihres Körpers waren für die Indianervölker das Sinnbild des Flusses. In ihrer Vorstellung hatte die Anakonda auf ihrem Weg stromaufwärts die Völker entlang des Flusses ausgespien. Ich hatte von Geschichten über Kämpfe zwischen Mensch und Würgeschlange gehört, die von tödlichen Umklammerungen berichteten. In Leticia gab es Ansichtskarten, auf denen die Anakonda als todbringendes Ungeheuer erschien. Es waren ausgebleichte Abzüge eines Fotos aus den achtziger Jahren. Der Körper der Schlange verteilte sich auf der Ladefläche eines Lkws. Ihr Kopf war verdreht und mit schweren Ketten an der Fahrerkabine festgezurrt. Das Maul stand offen. Im Bauch der Schlange war eine große Ausbuchtung. Was wie der Umriss eines verschlungenen Pekari, eines südamerikanischen Wildschweins aussah, war ein zwölfjähriger Indianerjunge, den die Schlange in der Nähe von Amacayacu verschluckt hatte.

 Während ich versuchte, die lebensmüde Anakonda mit der Menschenfresserin in Einklang zu bringen, war die Gruppe mit dem marktschreierischen Reiseleiter weitergelaufen, der die Richtung mit ausgestrecktem Arm anzeigte. Sie blieb vor dem Teich mit den zwei großen alten Mohrenkaimanen stehen. Um den Teich herum zog sich eine Mauer mit einem Gatter. Einer der Wärter rüttelte an den Eisenstäben. Wie an einer Schnur gezogen, die Nüstern nach oben gestellt, bewegten sich die Tiere ohne einen Wellenschlag langsam auf das Gatter zu. Sie blieben abwartend liegen und sperrten das Maul wie auf Knopfdruck langsam auf. Auf ihr Standardgericht, lebende Meerschweinchen, hatten sie schon lange warten müssen. Der Fleischvorrat war aufgebraucht und die Fütterung blieb aus. "Wenn sie nicht bald etwas zu fressen bekommen, werden sie sich selbst zerfleischen", sagte Pablo. Der schwarze Kaiman war die größte Echse im Amazonasgebiet und einst der Schrecken der Flüsse gewesen. Doch nach jahrzehntelanger Jagd war er selten geworden und nur noch weit ab von menschlichen Siedlungen anzutreffen. Nach der Vorführung des Amazonasschreckens folgte die humoristische Seite. Die Wärter riefen einen handzahmen Ameisenbär herbei, der als Jungtier von einem Jäger am Río Calderón eingefangen worden war. Der Ameisenbär trank abwechselnd Coca Cola und Bier aus der Flasche. Die lange klebrige Zunge zuckte wie bei einer Echse und saugte die Getränke in Minutenschnelle aus dem Flaschenhals. Dann trollte sich der Ameisenbär benommen in den Unterstand. Die meisten Tiere liefen frei herum, Capybaras, ein Paar Tapire, Kapuzineraffen sprangen in den Bäumen. Die Pflanzenfresser konnten sich auf diese Weise leidlich selbst verpflegen.

 Die Gruppe verließ den Zoo. Am Ausgang hielt ihnen Pablo sein leeres Portemonnaie unter die Nase und sagte:"Soy pobre como la rata. Ich bin arm wie eine Kirchenmaus." Einige kolumbianische Pesos und peruanische Soles kamen so zusammen. "Das Geld reicht gerade für einige Tintos", beschwerte er sich bei mir. "Du solltest dir eine Anakonda um den Hals legen und die Touristen am Anleger ansprechen. Pro Foto nimmst du dann einen Dollar", schlug ich vor. Pablo dachte über meinen Vorschlag nach, als wir in der einbrechenden Mittagshitze zurücktrotteten.

 Leticia liegt im Gebiet der Ticuna-Indianer, ein freundliches aufgeschlossenes Volk, das sich mit den letzten Omagua gemischt hatte, die einst die Flußufer und Inseln bewohnt hatten. Der Chronist Orellanas, Gaspar de Carvajal, berichtete von den Omagua. Kapitän Orellana, der erste europäische Amazonasreisende, hatte Pater Gaspar als dem Vertreter des Papstes den Vortritt gelassen, das neu entdeckte Land für die Kirche einzufordern. "Wir sind Geschöpfe und Vasallen des Herrschers der Christen, dem großen König von Spanien Don Carlos. Unser Gott ist der Schöpfer aller Dinge." Die Spanier schauten in die offenen Münder und verständnislosen Augen der Omagua. Noch bevor Gaspar de Carvajal fortfahren konnte, hatte Orellana die Gesprächsleitung übernommen.

 "Wir sind die Söhne der Sonne und fahren flußabwärts." Da lachten die Indianer und bereiteten den ersten Weißen im Jahre 1541 einen großen Empfang. Sie brachten Schildkröten-, Tapir-, Pekarifleisch und getrockneten Fisch in Hülle und Fülle, um die Gäste zu verköstigen. Der charmante Orellana kam bei den offenen und wissbegierigen Indianern gut an. Es gefiel ihm hier. Er blieb mehrere Monate und ließ eine weitere Brigg bauen. So wurde der Grundstein für eine jahrhundertewährende Vermischung von Weißen und Indianern gelegt. Die Indianer wurden angestellt, Harz für die Fugen des Schiffes aus dem Wald zu holen, und sorgten für den Lebensmittelnachschub. Häuptling Aparia begleitete Orellana als Führer stromabwärts bis an die Grenzen seines Reiches. Auf der Höhe des heutigen Fonte Boa begann das Land der kriegerischen Maschiparo und schnell sollte Orellana, dem jetzt der Park vor dem Anakondahotel gewidmet ist, bemerken, daß nicht alle Indianer ihre Gäste wie die Omagua behandeln.

 Leticia ist die Hauptstadt des Departements Amazonas, das Zentrum des kolumbianischen Amazonasgebietes. Die Stadt war 1867 durch den Peruaner Benigno Bustamente gegründet und erst nach dem Inkrafttreten des Grenzvertrages mit Peru im Jahre 1932 offiziell kolumbianisch geworden. Leticia liegt weit ab vom übrigen Kolumbien, getrennt durch sechshundert Kilometer Regenwald, am äußersten Zipfel des "Trapecio Colombiano", wie der trapezförmige Landstreifen heißt, mit dem sich das Land zwischen die beiden Amazonasnachbarn Brasilien und Peru geschoben hat. Kolumbien erhielt einen direkten Anschluß an den Amazonas, der dem Land einen ungehinderten Atlantikzugang sichert. Aber von hier bis zur Mündung ins Meer sind es noch dreitausenddreihundert Kilometer. So stand der Zugang lediglich auf dem Papier, denn seinen gesamten Überseehandel wickelte Kolumbien über die Karibik- und Pazifikküste ab. Leticias Wohlstand beruhte auf dem Status als Zoll- und Steueroase. Es sollte auch Drogenbosse in der Stadt geben und böse Zungen sprachen von einem "Cartel von Leticia", nichts ungewöhnliches in einem Dreiländereck, das nicht zu kontrollieren war und auch niemand kontrollieren wollte. Es gab weder Schießereien noch Tote auf der Straße. Die Drogenbosse lebten ruhig und zurückgezogen. Die Drogengelder flossen in Villen mit Säulenportalen, die in Palm Beach niemanden aufgefallen wären, die aber in einer Dschungelstadt kurios wirkten. Leticia bot für den Drogenhandel einige Vorteile. Die Ware konnte flußabwärts nach Brasilien oder flußaufwärts nach Peru befördert werden. Erst vor kurzem hatte eine Razzia stattgefunden. Natürlich war die Information durchgesickert. Die Narcos hatten ihre Autos vollgepackt und waren über die grüne Grenze nach Tabatinga verschwunden. Den Tag hatten sie in einer der Aircon-Bars bei Kartenspiel und Whisky verbracht. Nach dem Abzug der Drogenpolizei waren sie am Abend zurückgekehrt.

 Das ruhige und saubere Städtchen wirkte ganz anders als die heruntergekommenen Dschungelhäfen, die ich zuvor in Brasilien passiert hatte. Die Menschen strahlten einen Lebensoptimismus aus, eine Heiterkeit und Gelassenheit, wie sie für die Bewohner des tropischen Flachlandes typisch ist, die aber in Brasilien an vielen Orten bereits verlorengegangen und einer unendlichen Hoffnungslosigkeit gewichen waren. Die wenigen ausländischen Besucher, die in Leticia eintrafen, wurden wie alte Bekannte begrüßt und ohne Nachfragen aufgenommen. Mehrheitlich ist Leticia eine Stadt der weißen Kolumbianer, die von den Indianern "Blancos" genannt wurden. Einige stammten aus den Großstädten Bogotá, Medellín und Cali. Es waren kleine Händler, die in der Steuer- und Zolloase mit Spirituosen, Elektroartikeln und Außenbordmotoren Handel trieben.

 Ihre Zahl wurde angefüllt von Abenteurern und Spielern, die von der Magie des Dschungellebens angezogen wurden wie die Motten vom Licht. Es waren Lebenskünstler und Phantasten, wie sie seit den ersten Tagen der Konquista existierten und in deren Adern noch einige Tropfen Blut eines Lopéz Aguirre oder eines Ulrich von Hutten flossen. Es waren Nichtsesshafte, die die wirtschaftliche Not verbunden mit dem Sinn nach Abenteuern durchs Land trieb. Die "Masa flotante" war überall dort zu Hause, wo mit Gold, Smaragden, Holz oder Koka Geld zu verdienen war. 

 Auch Pablo gehörte dazu. Der Wind hatte auch einige Ausländer nach Leticia geweht. Der Prominenteste von ihnen war der Amerikaner Mike Tsalikis gewesen, der in den siebziger Jahren in Leticia den Ton angegeben hatte. Den Pionier- und Geschäftsgeist hatte er von seinem griechischen Vater geerbt, der das Mittelmeer verlassen hatte, um sein Glück in den Vereinigten Staaten zu suchen. Mike Tsalikis nahm sich in Leticia eine hübsche Ticuna-Indianerin zur Frau, kaufte sich eine gebrauchte Cessna und flog regelmäßig von Leticia nach Miami. Die Ticuna, zu deren Familie er nun gehörte, besorgten ihm Kaimanhäute und Arafedern. Er belieferte Versuchslaboratorien, Tierhandlungen und reiche Privatleute in den USA mit Dschungeltieren. Die Nachfrage war groß und Tsalikis kaufte für einige Dollar die Insel Santa Sofia stromaufwärts, die er zur Isla de los Micos machte. Auf der Affeninsel vermehrten sich die Kapuzineräffchen wie die Kaninchen und mußten nur noch eingesammelt werden. Der Amerikaner war bei den Kapuzinermönchen, die er mit seiner Cessna zu den Missionen an den Flußläufen flog, gleichermaßen beliebt wie bei den Komunalgrößen Leticias, weil er Gelder zum Bau eines Krankenhauses bereitstellte. 1967 wurde er der erste amerikanische Honorarkonsul in Kolumbien. Dann kam der Tourismus. Tsalikis gründete das Hotel Ticuna und ließ eine Gemeinschaft der Yagua-Indianer von Peru nach Kolumbien umsiedeln. Die einstigen Schrumpfkopfjäger, die mit Blasrohren Tiere gejagt hatten, vegetierten nun als Touristenattraktion im Ticuna-Land, trugen Baströckchen und summten den Besuchern auf kleinen Panflöten Melodien ins Ohr.

 Der Tierhandel wurde auf Druck internationaler Naturschutzorganisationen gesetzlich verboten. Tsalikis mußte umdisponieren und setzte zu seinem letzten Höhenflug an. Er stieg ins Kokaingeschäft ein und brachte das weiße Pulver in die USA. Er wurde geschnappt und landete in Miami im Knast. 

 Abenteurer wie Tsalikis lebten in einer Welt mit eigenen Gesetzen. Sie verachteten das Leben in den Städten und fühlten sich nicht als Verlierer, denen die Annehmlichkeiten der Städte vorenthalten blieben. Das unterschied sie von den meisten Brasilianern, die ich entlang des Río Amazonas getroffen hatte, für die das Leben im Dschungel nichts als sozialen Abstieg bedeutete, verbunden mit Niedergeschlagenheit, Abgestumpftheit, Suff und einem frühen Tod durch Gewalt, Drogen oder Tropenkrankheiten.

 In Tefé dröhnte die Musik in ohrenbetäubendem Lärm durch die Straßen und erst als sintflutartige Gewitter einsetzten und die Stromversorgung zusammenbrach, sorgte der Rhythmus des trommelnden Regens, dem ich atemlos vom Balkon des Hotelzimmers lauschte, für den Reiz einer aufregenden Weltuntergangsstimmung. Die Gewitter schwemmten nicht nur die Abwässer und den Müll in den großen Fluß, sie holten auch ihre Bewohner, wenn auch nur für kurze Zeit, aus ihrer Lethargie. Sie vergaßen für einige Augenblicke nach Manaus, Belém oder São Paulo zu blicken.

 Leticia hingegen war eine Welt für sich, in der sich die Menschen eingerichtet hatten, mit dem befreienden Gedanken im Kopf, das Hochland mit seinen Problemen weit weg zu wissen. Zum ersten Mal auf meiner Amazonasreise spürte ich etwas von einer harmonischen Welt, beinahe eine Idylle, wo jeder seinen Platz zu haben schien. Während die Menschen in den brasilianischen Amazonasorten auf ein Wunder hofften, hatten sich die Kolumbianer häuslich eingerichtet.

Ich begab mich auf den Weg zum Fluß. Entlang der Hauptstraße reihten sich Andenkenläden, angefüllt mit geschnitzten Holzdelfinen, Schildkröten, Tapiren und anderen Darstellungen von Dschungeltieren aus rötlichbraunem Mahagoniholz glänzend poliert. Von der Decke baumelten erdfarbene Masken aus Baumrinde, Bogen und Pfeile geschmückt mit Papageienfedern. In den Regalen lagen Yanchamas, Decken aus Baumrinde mit Dschungelmotiven. 

 Die Ticuna kamen in die Stadt um Handel auf dem kleinen Markt am Amazonasufer zu treiben. Die meisten wohnten nicht in Leticia, sondern stromaufwärts in ihren Comunidades, Santa Sofia, San Martín, Puerto Nariño. Das waren kleine Dörfer ohne Straßen und Fahrzeuge.Am Amazonasufer standen sie in winzigen und wackligen Holzgerüsten, die mit einer Plastikfolie überdacht waren, um die Ware rechtzeitig vor dem plötzlich einsetzenden Tropenregen zu schützen. Sie boten Kartoffeln, Platanos, Aji, Ananas und Yukawurzeln an. Einige Ticuna-Frauen saßen auf dem aufgeweichten Boden und hatten ihre Yukawurzeln zu kleinen Pyramiden aufgeschichtet vor sich liegen. Ein Ticuna schnitt Stücke getrockneten Fleisches aus der aufgeklappten Bauchseite des erlegten armlangen Kaimans wie Stücke von einer Dauerwurst.

 Das Hauptprodukt aber, von dem die Indianer und die ganze Stadt lebte, war der Fisch, frisch, luftgetrocknet und geräuchert. An der Uferböschung reihten sich die Kühlhäuser und Trockenlager, die auf Pfählen standen, weil der Amazonas während der Regenzeit bis zu ihnen hinaufreichte. Über die Geländer hingen aufgeschnittene Fischleiber, die wie Häute aussahen, zum Trocknen aus. Jedes Jahr wurden sechstausend Tonnen Fisch nach Bogotá ausgeflogen. Die Händler interessierten sich hauptsächlich für die großen Amazonasfische, die Riesenwelse, Valentón, Pintadillo und Dorado, die zum Filet verkleinert und ohne Gräten auf dem Mittagstisch der Hochlandbevölkerung landeten. Der größte ist der Valentón, der eine Länge von bis zu drei Metern und ein Gewicht von 150 Kilogramm erreichen kann. Er gilt als besonders gefräßig und soll selbst vor badenden Kindern nicht haltmachen. Valentón ist der gebräuchlichste Name. Am Río Caquetá heißt er Lechero, weil sich auf seiner Unterseite Fettdrüsen befinden, die eine milchige Flüssigkeit absorbieren. Der kleinere Pintadillo ist gestreift und heißt auch Tigerwels. Sein Fleisch ist aromatisch zart und bei der Amazonasbevölkerung wesentlich beliebter als das oft fade Fleisch des Valentóns und des goldschimmernden Dorados. 

 Neben den drei Arten von Riesenwelsen gibt es noch einen weiteren großen Fisch. Der Arapaima gigas, der im kolumbianischen Amazonasgebiet Paiche genannt wird, unterschied sich von den gefräßigen Räubern durch seine Friedfertigkeit und kommt im Gegensatz zu ihnen auch nicht in Schwärmen vor. Er gehört zu den letzten Vertretern der urzeitlichen Knochenfische, die im Süßwassermeer des Amazonas bis heute überlebt haben. Seine Schuppen sind größer als Suppenlöffel und wie die gepanzerten Glieder eines Kettenhemdes übereinandergezogen. Er atmet nicht durch Kiemen und kommt zum Luftholen in regelmäßigen Abständen an die Wasseroberfläche. Die Jagd auf einen Paiche ist noch immer eine packende direkte Auseinandersetzung zwischen dem Jäger und dem kräftigen Einzelgänger. Tagelang folgt ihm der Fischer in seinem kleinen fragilen Kanu, um im entscheidenden Augenblick das Ruder aus der Hand zu legen und die Harpune auf den auftauchenden Fisch zu schleudern, der ihn aus weit aufgerissenen Pupillen anstarrt. 

 Michael Goulding, ein Wissenschaftler der Universität Berkeley, der den Zusammenhang zwischen dem Wald und den Fischen untersucht und viele Jahre bei den Caboclos in Brasilien verbracht hat, hielt den Arapaima gigas für das prestigeträchtigste Beutetier des Jägers und verglich das Harpunieren eines Paiche mit dem Töten eines Löwen durch einen Massai. 

 Der Paiche lebte nur im zentralen Amazonasbecken und hatte sich nicht über die Katarakte und Stromschnellen an die Oberläufe der Flüsse ausgebreitet. In Kolumbien war er nur im Río Amazonas, Río Putumayo und unterhalb des Chorro de Cordoba im Río Caquetá beheimatet, und in all diesen Flüssen war er bereits recht selten geworden. Ich war daher um so erstaunter, als ich zwei Fischer sah, die einen Paiche, groß wie sie selbst und über einhundert Kilo schwer, auf einen Tisch legten und mit dem Schlachtermesser bäuchlings tranchierten. Der Fisch, dem sie zuvor die Augen ausgestochen hatten, rutschte von der Tischplatte und erst mit Hilfe zweier weiterer Männer gelang es, ihn hochzuhieven. 

 Die kleinen Fische landeten auf dem lokalen Markt, wo sie auf Bananenblättern auf dem Boden ausgelegt wurden. Im Dutzend hingen schwarzbraune welsähnliche Fische mit vielen Barten und einem runden Saugmaul an einer durch die Kiemen gezogenen Schnur wie an einem großen Schlüsselbund. Die häßlichen Cuchas hatten stecknadelgroße schwarze Knopfaugen, einen flachen Schädel und waren von kleinen harten Schuppen wie Zapfen überzogen. Diese Schlammwühler, in der Nähe der Ufer weit verbreitet, warfen zwar nicht viel Fleisch ab, waren aber geschmackvoller als die meisten Riesenfische. In der Sonne glitzerten die goldgelben schlanken Arengas, die mit dem Netz gefischt wurden. Daneben lagen die schwarzen riesenkarpfenähnlichen Gamitanas.

 Eine schwimmende Bar war am Ufer festgemacht, die den Schwankungen des Wasserstandes folgte und über eine Holzplanke betreten wurde, die in federnde Schwingungen geriet, als ich hinüberlief. An der Bar, die zugleich der Bootsanleger war, hatten Kanus in unterschiedlichen Größen festgemacht. In den kleinen Ein-Mann Kanus lag ein Paddel mit einem herzförmigen Blatt. An den langen Einbäumen hingen Außenborder. Einige der Längsboote trugen ein Sonnendach aus Palmblättern der Yarínapalme. In den Booten stapelten sich Stauden grüner Platano und rote Früchte der Chontaduropalme. 

 Die Bar hieß El Delfin Rosado. Der Wirt war ein jovialer Typ, der jeden begrüßte. Er stand hinter seinem kleinen Tresen, hatte einen Kugelschreiber hinter sein rechtes Ohr gesteckt und füllte das schiefe Holzregal mit Bierflaschen auf. Sorgfältig trennte er die kleinen kolumbianischen Aguilar- von den brasilianische Antarctica- und peruanischen Cruzqueñabieren. Von den Kanus sprangen Menschen auf den Anleger und in entgegengesetzter Richtung auf die Boote. Ich trank ein Aguilar, blickte auf die Spiegelungen des Flusses und das wilde Treiben um mich herum und fragte mich, wie die Reise weitergehen sollte. Ich mochte Leticia und die Kolumbianer. 

 Zunächst mußte ich mich eingehender über das kolumbianische Amazonasgebiet informieren. Das South American Handbook, die Bibel des Südamerikareisenden, das ich zu Rate zog, gab zum kolumbianischen Amazonasgebiet nicht viel her, es endete mit den Straßen am Piedemonte, am Andenabstieg. Die Straßen im Amazonasgebiet aber waren die Flüsse und an die Stelle von Kraftfahrzeugen traten Boote mit Außenbordmotoren. Um diese Geographie zu begreifen, mußte ich umdenken.

Copyright © Frank Semper

 

Der Autor
Frank Semper, Jahrgang 1962, lebt in Hamburg und Kolumbien. Der Verleger und Reisebuchautor promoviert im kolumbianischen Indianerrecht.

Tor zum Amazonas
Frank Semper
ISBN 3-9805953-1-5
Gebunden, 242 Seiten, DM 26,80
SEBRA-Verlag 1999
Website: http://www.sebra-verlag.de

Tor zum Amazonas
ausgezeichnet mit dem
"Globetrotter-Reisebuchpreis"

Bitte richten Sie keine Bestellungen direkt an den Sebra-Verlag.
Den hier vorgestellten Buchtitel können Sie im Internet unter http://www.bol.de
oder http://www.amazon.de bestellen.
Pressestimmen
«Die Sprache von einer wundervollen Schnoddrigkeit; Zeilen, die auch beim zweiten oder dritten Lesen im Kopf Bilder entstehen lassen. Das dampfende Geräusch des Dschungels, das aus jedem Satz in die Schmökerecke herüberklingt ebenso wie das leise Gurgeln des geheimnisvollen Flusses Rio Caquetá - Frank Sempers Band Tor zum Amazonas ist mehr als eine Reisebeschreibung. Dem Autor gelingt die literarische Wiederbelebung einer Erzählform, die im Zeitalter der Servicebesessenheit nur noch in verstaubten Bänden der Bibliotheken zu finden ist. Eine richtige Reiseerzählung, die in ihren stärksten Passagen durchaus an die wenigen Reportagetexte eines Jack London erinnert. Und in der grünen Hölle des Grenzgebietes zwischen Brasilien und Kolumbien haben die schrägen, abenteuerlichen Gestalten, die Glücksspieler und Aussteiger, denen der Deutsche auf seiner Reise begegnet, ein letztes Zuhause gefunden. Es sind jene Typen, die einst aus äußerlich unscheinbaren Büchern Welten voller Fantasie und Spannung machten. Und offenbar bewusst verzichtete Semper gänzlich auf Fotos: Im Zeitalter der immer schneller geschnittenen Clips hat das geschriebene Wort noch einmal Platz bekommen, dem Gedanken verbunden, das Reisen eben nicht nur Sehen, sondern auch Verstehen bedeutet.» (Die WELT)

«Egotrip ins Unbekannte» (DIE ZEIT) «Feme Gegenden neu entdecken» (Hannoversche Allgemeine Zeitung)
«einer jener modernen Abenteurer (...), die vom Amazonasbecken magisch angezogen werden.» (ekz - Informationsdienst)
«ein spritzig geschriebener, kenntnisreicher Abenteuerbericht» (Bücher zu Lateinamerika)
«ein unterhaltsamer Reisebericht aus einer der letzten «unberührten» Regionen der Erde.» (Angelwoche)
«ein interessantes Erlebnis» (südwind,Wien) «ein wunderbares Buch» (Globetrotter Handbuch 2000)

 

 

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Stand: 08. August 2008
 

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